Ernst Herbsts gesammelte Texte von und über
Immermann,
den Freundeskreis C.L.I. (1983-1990)
und die Anfänge der Immermann-Gesellschaft


Gastbeitrag

Stadt-, land- und weltbekannte Vorfahren der Marianne Immermann, geborene Niemeyer.

Vortrag von Brigitte Köther, Immermanngesellschaft
anlässlich des Stadtjubiläums "1200 Jahre Magdeburg"
im Literaturhaus Magdeburg am 12.04.2005


Inhalt:


Marianne Immermann
Marianne Immermann mit Tochter Caroline Zeichnung von Wilhelm Camphausen 1844

In einem Brief Carl Leberecht Immermanns an seinen Bruder Ferdinand vom 9. März 1838 ist zu lesen:
Niemeyers Tod war Dir gewiß ein herber Verlust. Ich kannte ihn eigentlich wenig, indessen hielt ich nach dem Wenigen, was ich von ihm wußte, doch viel von ihm, und so war auch mir die Nachricht von seinem Ende erschrek-kend und betrübend. Welch ein Schlag übrigens für seine alte Mutter! Es ist doch sonderbar, daß gerade diesen star-ken und geistvollen Naturen so schwere Einbußen für ihre letzten Tage aufgespart werden.

Die Rede ist hier vom Tode des Kreisphysicus von Magdeburg, Dr. med. Carl Eduard Niemeyer, Mariannes Vater, und von der Kanzlerin Agnes Wilhelmine Niemeyer, geborene Köpken, Mariannes geliebter Großmutter, über die sie später schreibt:
Sie war der gute Genius meines Lebens, weckte mein geistiges Sein und ordnete meine Tätigkeit mit großer Liebe und Zärtlichkeit. Was aus mir geworden wäre ohne den Einfluß dieser Frau, weiß ich nicht; es war mein Glück, daß sie jährlich im Frühling und Herbst mehrere Wochen bei uns zubrachte und dadurch einen fortlaufenden Einfluß auf mich übte.

Im März l838 war allerdings noch nicht daran zu denken, daß die 18jährige Marianne so bedeutsam für Carl Leberecht Immermann werden sollte. Ferdinand aber war von dem in Magdeburg verstorbenen Arzt Eduard Niemeyer als Vormund für dessen Kinder bestimmt worden, und Ferdinand nahm das Vermächtnis seines langjährigen Freundes und Hausarztes mit größter Gewissenhaftigkeit wahr.

C. L. Immermann 1839 Marianne Niemeyer um 1839
Carl L. Immermann 1839
Kupferstich von Joseph Keller
nach einer Zeichnung von Theodor Hildebrand
Marianne Niemeyer-Immermann
um 1839

Anläßlich der Kindtaufe von Ferdinands erstem und einzigem Sohn Carl Hermann Ferdinand am 27. 9. 1838 lernten sich die beiden für das Kind bestimmten Paten - Carl Leberecht Immermann und Marianne Niemeyer - näher kennen. In Marianne erblickte der 42jährige und lebenserfahrene Immermann ein ihm ergebenes weibliches Wesen, das ihm vielleicht doch noch zu dem Familienglück verhelfen könnte, wonach er sich sein Leben lang gesehnt hatte.

Ende Oktober 1838 begann ein intensiver Briefwechsel zwischen dem in Düsseldorf lebenden Dichter und Landgerichtsrat und Marianne, die mit ihren Geschwistern als Vollwaisen bei der Großmutter Niemeyer im geräumigen, Wohlstand und Kultur ausstrahlenden Hause am Großen Berlin Nr.432 in Halle lebte. Das Wohnhaus mit dem Kopf des Sokrates über der Tür im barocken Baustil der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann auch heute noch als ein stattliches bezeichnet werden. Die Adresse lautet jetzt Große Brauhausstraße Nr. l5. Am Nachbarhaus, dem sogenannten Riesenhaus, liest man auf einer Plakette, daß am 19. 10.1806 Napoleon hierin genächtigt hat.

Marianne Niemeyer-Immermann-Wolff 1854
Quelle: F. Wolff: Auf dem Berliner Bahnhof; nach S.40

Zum Inhaltsverzeichnis:


Der Vater: Carl Eduard Niemeyer (1792-1837)

Mariannes Vater wurde am 13. April 1792 als dritter Sohn des Hallenser Theologieprofessors, Kanzlers der Universität und Direktors der Franckeschen Stiftungen Dr. August Hermann Niemeyer und dessen Ehefrau Agnes Wilhelmine Christiane geborene Köpken in Halle geboren.
Er wuchs in gediegener Wohlhabenheit im Kreise zahlreicher Geschwister im oben erwähnten Hause auf, erhielt eine solide Schulbildung unter den Fittichen des Vaters und studierte in Halle Medizin. Das Studium wurde unterbrochen, weil er als Freiwilliger am Befreiungskrieg gegen Napoleon teilnahm.
1814 erlangte er an der Universität Halle die Doktorwürde. Das Thema seiner Dissertationsschrift war Singularis in foetu puellari recens edito abnormitatis exemplum.
1815 ließ er sich als praktischer Arzt in Magdeburg nieder. Zu seinem Patientenkreis gehörten bald auch die hier wohnenden Familienmitglieder der Immermanns, wie aus einigen Briefen des Schriftverkehrs Carl Leberecht Immermanns hervorgeht.

Die Stellung der Ärzte war um diese Zeit in Magdeburg eine angesehene. In der Ausübung der Praxis unterschied man zwischen hausärztlicher und armenärztlicher Tätigkeit. Die zahlungsfähigen Familien hatten ihren Hausarzt, dieser erhielt für die Betreuung aller Familienmitglieder einschließlich des Hauspersonals pro Jahr zwischen 60,00 und 80,00 Mark in Gold. Weniger bemittelte Einwohner der Stadt bezahlten einen geringeren Satz, bisweilen erfolgten notwendige Behandlungen auch kostenlos. Als Armenärzte niedergelassene Praktiker erhielten ein sogenanntes Pauschalquantum vom Staat; dafür hatten sie in einem amtlich festgelegten Revier der Stadt alle mittellosen Kranken zu versorgen.
Im Adreßbuch Magdeburgs von l83l sind 37 studierte Ärzte eingetragen. Dr. Carl Eduard Niemeyer gehörte zu den bekanntesten und beliebtesten der Stadt. Marianne schrieb später über ihn und ihre Mutter: "Meine Eltern sollen das schönste Paar in Magdeburg gewesen sein, als sich beide in sehr jugendlichem Alter verheirateten, das ist mir noch in meinem späteren Leben viel gesagt worden. "

Nachdem Eduard Niemeyer auch in den Gefängnissen der Stadt öffentlich wirksam geworden war, legte er zusätzlich das Physikatsexamen in Berlin ab und wurde 1824 Kreisphysikus in Magdeburg. Ab 1831 übernahm er an der Medizinisch-chirurgischen Lehranstalt, die in den Jahren 1827 bis 1849 im Städtischen Krankenhaus der Stadt (dem heutigen Altstädtischen Krankenhaus) untergebracht war, als Dozent medizinischen Unterricht in Staatsarzneikunde und Gerichtsmedizin, später auch in Innerer Medizin.
Der Direktor der Medizinisch-chirurgischen Lehranstalt, Regierungs-Medizinalrat Dr. August Wilhelm Andrae (1794/1867) schildert Eduard Niemeyer als einen Mann von feiner Bildung und Sitte und von seltener Liebenswürdigkeit; der wahre Freund seiner Kranken.

Besonders verdient machte er sich während der Choleraepidemie 1831/32 in Magdeburg. Um sein Wissen über diese Massenerkrankung zu erweitern, reiste er nach Berlin und sammelte dort bedeutsame Einsichten und Lehren , die er dann bei der Bekämpfung der Seuche in seiner Heimatstadt erfolgreich anwenden konnte. Er veröffentlichte seine eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse in anschaulicher und verallgemeinerungswürdiger Form und wirkte damit weit über die Grenzen der Stadt Magdeburg hinaus. Erwähnen möchte ich dazu insbesondere seine Schriften

  • Beobachtungen über die asiatische Cholera. Auszug aus einem Reisebericht an die königliche Regierung zu Magdeburg. 183l
  • Geschichte der Epidemie der asiatischen Cholera im Magdeburger Kreise vom Oktober 1831 bis Ende 1832.

  • Daß diese und zahlreiche weitere medizinische Erfahrungsberichte Anerkennung, Verbreitung und praktische Anwendung gefunden hatten, wird dadurch bewiesen, daß wir den Namen Dr. Eduard Niemeyer und eine Würdigung dessen Leistungen im Biographischen Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker"", Band 4, Seite 367 lesen können.

    Übrigens findet man in dieser Sammlung bedeutender Ärzte aus aller Welt viermal den Namen Niemeyer, und bei jedem ist der Bezug zu August Hermann Niemeyer, Eduards berühmtem Vater aus Halle, hergestellt:

  • Wilhelm Hermann Niemeyer (1788/1840), älterer Bruder von Eduard; bedeutender Gynäkologe in Halle.
  • Carl Eduard Niemeyer
  • Felix von Niemeyer (1820/1871), hervorragender Kliniker in Greifswald und Tübingen, ein Sohn von Eduard und der Bruder Mariannes; seiner außerordentlichen Leistungen wegen in den Adelsstand erhoben.
  • Paul Niemeyer (1832/1890), ebenfalls ein Sohn Eduards aus dessen zweiter Ehe, Halbbruder Mariannes. Seine Lehrbücher wurden zu Grundlagen der modernen Medizin.
  • Zum Inhaltsverzeichnis:


    Der Vatersvater: August Hermann Niemeyer (1754-1828)

    August Hermann Niemeyer
    August Hermann Niemeyer (1754-1828)
    Ölgemeinde von Carl Theodor Demiani (1828)

    Hatten die Vertreter der Niemeyerfamilie in der Elterngeneration Mariannes sowie in ihrer eigenen einen weit reichenden guten Ruf, so wurde dieser noch weit übertroffen von August Hermann Niemeyer, Mariannes Großvater in Halle. Und diese Ausstrahlung reicht bis in die heutige Zeit, bis ins 21. Jahrhundert, wie der Veranstaltungskatalog der Franckeschen Stiftungen zu Halle für das Jahr 2004 eindrucksvoll beweist. Namhafte Persönlichkeiten des kulturellen und ge-sellschaftlichen Lebens Sachsen-Anhalts unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des Landes, Professor Dr. Wolfgang Böhmer, zeichneten verantwortlich für das kulturelle Themenjahr 2004: "Aufklärung und Bildung". Bereits im Vorwort ist die Bedeutung August Hermann Niemeyers, dessen 250. Geburtstages man ehrend gedachte, hervorgehoben worden. Zahlreiche Veranstaltungen waren ihm gewidmet, so eine große Ausstellung vom 23. Mai bis 7. November 2004 in sieben Räumen der Franckeschen Stiftungen mit einem anspruchsvollen, sehr informativen Katalog, eine mehrtägige Konferenz mit internationaler Beteiligung , zahlreiche Vorträge, Salongespräche, Führungen - unter anderen auch auf den Spuren der Kanzlerin - teilweise mit museumspädagogischem Begleitprogramm.
    Folgenden Text findet man im Veranstaltungskatalog 2004:

    Licht und Schatten.
    August Hermann Niemeyer (l754-1828)
    Ein Leben an der Epochenwende um 1800
    Jahresausstellung im Themenjahr
    Eröffnung mit einem Festvortrag von Prof. Dr. Ulrich Herrmann.

    August Hermann Niemeyer gehörte zu den herausragenden Persönlichkeiten Halles in seiner Zeit. Als Rektor und Kanzler der Universität, Direktor der Franckeschen Stiftungen, als preußischer Bildungspolitiker und Pädagoge wirkte er über die Grenzen Halles hinaus. Er unterhielt zu vielen bekannten Persönlichkeiten Kontakte, die er durch eine weit gespannte Korrespondenz und zahlreiche Reisen im In- und Ausland pflegte. Leben und Wir-ken August Hermann Niemeyers einer größeren Öffentlichkeit wieder bewußt zu machen und in den Kontext der Kommunikationskultur seiner Zeit zu stellen, ist das erklärte Ziel der Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen, die anläßlich seines 250. Geburtstages im Historischen Waisenhaus gezeigt wird.
    In sieben Ausstellungsräumen wird das Leben Niemeyers, werden sein Tun und seine Interessen im Kreis seiner Familie, im Salon seiner Frau Agnes Wilhelmine, auf dem Gebiet der Erziehung und Bildung, sein Einsatz für die Universität und die Franckeschen Stiftungen sowie seine Rolle als Diplomat und Reisender vorgestellt und damit eine spannungsreiche Epoche der halleschen Stadt-, Universitäts- und Schulgeschichte im Kontext Deutschlands und Europas perspektivenreich beleuchtet.
    Die Ausstellung möchte gleichfalls zu einer Zeitreise an die Epochenwende des 18. Jahrhunderts, eine bewegte Zeit, einladen und die Auswirkungen der politischen und kulturellen Veränderungen im Spiegel der Biographie Niemeyers verorten.

    Inmitten der weitläufigen Anlagen der Franckeschen Stiftungen gibt es einen Niemeyer-Platz mit einer Niemeyerbüste, die von dem in Bulgarien geborenen zeitgenössischen Künstler Rossen Andreev geschaffen worden ist. Hier sollen heutzutage Besucher der Anstalt "die lebendige und gleichzeitig geschichtsträchtige Atmosphäre des Bildungskosmos Franckesche Stiftungen auf sich wirken lassen".

    Es gibt aber viele weitere Hinweise und Zeugnisse in Halle, die auf diesen bedeutenden Sohn der Stadt hinweisen: An seinem ehemaligen Wohnhaus am Großen Berlin befindet sich eine Plakette mit der Aufschrift: Hier wohnte l787-1828 Professor der Theologie und Universitätskanzler August Hermann Niemeyer, es gibt eine Niemeyerstraße mit der entsprechenden Beschilderung, eine Büste von ihm im Treppenhaus des Löwengebäudes der Universität und mehrere Gemälde an verschiedenen Orten. Niemeyer gilt in Halle als lokale Größe, als Prominentester Bürger, ja als gekrönter Bürger, weil er im Jahre l827 anläßlich seines 50jährigen Amtsjubiläums vom Magistrat und der Bürgerschaft eine silberne, teilweise vergoldete Bürgerkrone für sein gemeinnütziges Engagement verliehen bekommen hat.

    Die Würdigung, die dem verstorbenen August Hermann Niemeyer ein Jahr später zuteil wurde, überstieg alles vorher Gewesene; prächtiger konnte kein adliges gekröntes Haupt bestattet werden. In den Anmerkungen über Sterbefälle von 1818 bis 1874 im Pfarrarchiv Unser Lieben Frauen ist zu lesen: "Noch nie ist wohl ein schönerer Leichenzug bey einem Begräbniß in Halle gewesen, als wie bey der Beerdigung des höchstverdienten Herrn Kanzler Niemeyer."
    In etlichen Kirchen der Stadt läuteten die Glocken sowohl am Sterbe- als auch am Begräbnistag, und weil der Leichenzug schier endlos lang war, ertönten auch die Glocken eine geraume Zeit. Zahlreiche würdigende Trauer- und Gedächtnisreden wurden gehalten und ein Meer von Blumen und Bändern schmückte den Stadtgottesacker, wo er in dem Erbbegräbnis der Familie beigesetzt wurde.
    Der oben erwähnte Bericht über das Begräbnis endet mit den Worten: Lange wird dieser vortreffliche Mann unter uns und in der ganzen Welt unvergeßlich bleiben, denn es war noch nicht seines gleichen hier und wird auch so bald nicht wieder kommen.

    Wer war nun dieser zu seiner Zeit so hoch verehrte und gekrönte Bürger von Halle?

    August Hermann Niemeyer wurde am 1. September 1754 als fünftes Kind des Theologen und Lehrers des Waisenhauses Johann Conrad Philipp Niemeyer und dessen Ehefrau Auguste Sophie geborene Freylinghausen, der Enkelin von August Hermann Francke, in Halle geboren. Erst neunjährig verlor er seine Mutter, drei Jahre später seinen Vater.
    Eine Verwandte, Witwe eines russischen Leibarztes und Rates, Sophie Antoinette Lysthenius, die als Mitglied des Adels am ostfriesischen Hof aufgewachsen war, übernahm die Erziehung und beeinflußte die Umgangsformen und den Bildungsgang.
    Die Schulzeit absolvierte August Hermann auf dem Pädagogium Regium, der Gelehrtenschule, die 1697 von seinem Urgroßvater August Hermann Francke gegründet worden war und ein königlich preußisches Privileg besaß. Ab 1771 studierte er Theologie an der Universität Halle.

    Erst 21jährig trat er 1775 mit einem originellen Werk an die Öffentlichkeit: Die Charakteristik der Bibel. Darin entwirft er ein Konzept des denkenden Christen und artikuliert seinen theologischen Standpunkt, daß er nicht für Gottesgelehrte, sondern für denkende Christen schreiben wolle. Nicht trockene Speculationen und gelehrte Auslegungen zu biblischen Gestalten ist sein Anliegen, sondern die Frohe Botschaft soll in ihrer menschlichen Dimension verkündigt werden. Das Studium der Bibel ohne Systeme, Compendien und Lehrbücher sollte der Erbauung der Seele dienen und zeigen, daß Natur und göttliches Wirken keinen Widerspruch darstellen, weil Gott durch den Menschen wirkt.
    In den Jahren zwischen 1775 und 1794 wächst seine theologische Abhandlung Charakteristik der Bibel auf fünf Bände an und erlebt als echter Erfolgstitel fünf Auflagen. Niemeyer verfaßte auch mehrere Lehrbücher zur Religionspädagogik, z. B.

  • Handbuch für christliche Religionslehrer (1792)
  • Briefe an christliche Religionslehrer (1796 - 1799)
  • Lehrbuch für die oberen Religionsklassen gelehrter Schulen (1802)
  • 1777 promovierte er über Homer und bekundete damit seine literarischen Ambitionen, denen er zeit seines Lebens anhing und die er auch eigenschöpferisch zum Ausdruck brachte. Zahlreiche Gedichte und Lieder, religiöse Dramen und viele Reiseberichte bezeugen das. Mit den stark handlungsorientierten Dramen

  • Abraham auf Moria (l776),
  • Lazarus, oder die Feyer der Auferstehung (1778),
  • Thirza und ihre Söhne (1778) sowie
  • Mehala , die Tochter Jephtas (1781)

  • und auch mit Gedichten lieferte er Textvorlagen für den Komponisten Johann Heinrich Rolle aus Magdeburg und für Franz Schubert.

    Aber auch auf dem Gebiet der allgemeinen Pädagogik verfaßte Niemeyer grundlegende und wegbereitende Schriften. 1796 erschienen seine Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts, die sich rasch zu einem Standardwerk der Pädagogik im 19. Jahrhundert entwickelten. In der Vorrede zu diesem Werk schreibt er:
    "Dem Ganzen wird man es, hoff' ich, anmerken, daß ich mich von jeder Anhänglichkeit an irgend ein System, heißt es kirchlich, philosophisch, pädagogisch, oder politisch, frey zu erhalten gesucht habe.
    Er bekannte sich dazu, Eklektiker zu sein, auszuwählen, welche Erziehungsmaßnahmen in dem speziellen Fall Anwendung zu finden haben: ... was mit dem einen Kind leicht zu erreichen ist, kann mit dem anderen mühsam sein.

    Niemeyer befaßte sich mit allen Optionen der alten und neuen, kritischen und "antikritischen" Erziehungslehren und beschrieb diese abwägend, abgrenzend, zuordnend und wertend und wurde so zu einem Historiographen der Zeitgeschichte pädagogischer Strömungen. Das Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit dieser Materie war das Enzyklopädische Lehrbuch der Pädagogik, das zwischen 1796 und 1825 in 8 Auflagen in immer wieder überar-beiteten und aktualisierten Versionen erschien. Es war also kein statisches, abgeschlossenes Werk; Niemeyer arbeitete ständig seine neuesten Erfahrungen der pädagogischen Praxis auf dem Königlichen Pädagogium ein.
    Als unparteiischer Pädagoge war er auch auf diesem Gebiet ein fruchtbarer Verfasser vieler Schriften und Traktate.

    Vor allem aber sorgte er durch seine fortschrittlichen Erziehungsideen und Erziehungsmaßnahmen für eine Erneuerung des Bildungsprogrammes des Pädagogiums als Internatsschule für Söhne des Adels und des zahlungskräftigen Bürgertums. Auch wußte er sich durch sein Wirken die Gunst des Königs Friedrich Wilhelm III. von Preußen zu gewinnen und zu erhalten, der mit beachtlichen Zuwendungen seine Verbundenheit mit den pädagogischen Anstalten in Halle bekundete.

    Liest man in den pädagogischen Schriften Niemeyers, wie er die Schüler neben dem Unterricht zu Freizeitaktivitäten wie Spaziergänge und -ritte, Exkursionen, Jahresfeste usw. anregte, Sonntagsveranstaltungen unter dem Namen Privat-Aktus organisierte, zu dem Vorlesungen, Gespräche, Musik und auch ein Tänzchen angeboten wurden, um den gesellschaftlichen Umgang der Zöglinge zu befördern, so blickt man aus heutiger Sicht mit Bewunderung und auch etwas Neid auf den Ideenreichtum und die Beweglichkeit des Bildungswesens in dieser Einrichtung. Bildung des Geistes und des Herzens waren Niemeyers Maxime der Erziehung.

    Neben seinem erfolgreichen Wirken auf theologischem und pädagogischem Gebiet erwarb sich August Hermann Niemeyer aber auch große Verdienste als pflichtbewußter Patriot für das Fortbestehen der Franckeschen Stiftungen und der Hallenser Universität sowie als ein geschickter Diplomat während der Napoleonischen Kriege und der Zeit der französischen Besatzung.

    1804 war er als Oberkonsistorialrat und Oberschulrat Mitglied des Oberschulkollegiums in Berlin geworden, mit Sitz und Stimme im preußischen Ministerium. 1807 erging an ihn der Ruf des Königs zum Geheimen Staatsrat für das Ressort Cultus und Unterricht, was er aus patriotischen Erwägungen im Hinblick auf die Universität in Halle sowie auf die Franckeschen Stiftungen nach einiger Bedenkzeit ablehnte. Wilhelm von Humboldt hat dann diese Funktion übernommen.
    Niemeyer aber sah seinen Platz in Halle, um die von ihm geleiteten Einrichtungen durch die Wirrnisse des Krieges und dessen Folgen zu führen. 1806 war die Universität zum ersten Male geschlossen worden. Durch geschicktes Verhandeln erreichte Niemeyer, daß sie im Mai 1808 wieder eröffnet werden konnte.
    Daß der Ostphalenkönig Jérôme ihn als Rector perpetuus (ohne jährliche Wiederwahl) einsetzte und als Kanzler bestätigte, zeugt von großem diplomatischem Geschick. Allerdings mußte er sich deshalb auch von einigen Neidern Kollaboration mit der französischen Besatzung vorwerfen lassen.
    Henrich Steffens , Professor der Naturphilosophie, Physiologie und Mineralogie in Halle sagte dazu: Daß er Alles, was der unabweisbare Druck der Verhältnisse erlaubte, klüglich benutzte, um der Stadt und Universität nützlich zu sein, kann kein Besonnener ihm vorwerfen, muß es vielmehr billigen.

    Eine besonders mißliche Situation hatte Niemeyer effektiv zu nutzen gewußt: Im Mai 1807 war er von der französischen Besatzungsmacht verhaftet und nach Frankreich deportiert worden. Über Mainz und Metz ging es schließlich nach Paris.
    Diese Deportation war aber mehr als eine Zwangsreise zu betrachten, denn er mußte diese aus eigener Tasche bezahlen. Sie gestattete ihm aber auch, bekannte Persönlichkeiten zu besuchen, Sehenswürdigkeiten zu betrachten, Bildungs- und Sozialeinrichtungen zu studieren und vor allem wichtige Kontakte zu den zukünftigen Ministern des Königreiches Westphalen zu knüpfen. Diese Verbindungen erwiesen sich als sehr hilfreich für die weitere Entwicklung der Situation in Halle.
    Im Oktober 1807 kehrte Niemeyer nach Hause zurück, allerdings mit dem inneren Konflikt: sollte er in Halle bleiben und sich dem Druck der Fremdherrschaft stellen, oder sollte er das Angebot des preußischen Königs annehmen und sein Wirkungsfeld nach Berlin verlegen?
    Zum Wohle der beiden bedeutenden Hallenser Bildungseinrichtungen entschied er sich für das Ausharren in seiner Heimatstadt.
    Dennoch hat er es verstanden, sich die Gunst des Königs von Preußen zu erhalten. Die Büste Friedrich Wilhelms III. blieb auf seinem Schreibtisch stehen, obwohl er sich auch an der Huldigung des Königs Jérôme Bonaparte beteiligte.
    Seine Hoffnungen für die Stiftungen und die Universität Halle erfüllten sich, der Vorlesungsbetrieb an der Universität konnte wieder aufgenommen werden, und die Franckeschen Stiftungen erhielten eine solide und tragfähige finanzielle Unterstützung.
    Niemeyer nahm die Berufung als Mitglied der Reichsstände in Kassel an und wurde für seine Dienste mit dem Orden der westphälischen Krone geehrt.
    So manövrierte er geschickt die Einrichtungen, für die er sich verantwortlich fühlte, durch die Jahre der feindlichen Besatzung. Sein Herz aber blieb auf der preußischen Seite, wie er später literarisch zum Ausdruck gebracht hat.

    Nach dem französischen Interregnum veröffentlichte er eine zweibändige Beschreibung seiner Erlebnisse während der Zwangsreise unter dem Titel: Beobachtungen auf einer Deportationsreise nach Frankreich im Jahre 1807. Nebst Erinnerungen an denkwürdige Lebenserfahrungen und Zeitgenossen in den letzten funfzig Jahren.

    Im Hoffnungslied im Angesicht des Rheins kann man lesen:

    Wohin sie uns vom Vaterlande bannen,
    Was kümmert uns der Ort?
    Den Körper nur - den führen sie von dannen;
    Der freie Geist bleibt dort.

    Dieses Gedicht entstand 1807; ein weiteres besingt den Rhein, nun aber 1814:

    An den Rhein. 1814.

    Triumph dir, Vater Rhein! es ist errungen!
    Das Vaterland ist frey!
    Besiegt, die uns wie dich ins Joch gezwungen,
    Die stolze Tyranney.
    Gerettet sind die alten, heil’gen Rechte,
    Denn uns gehörst du an.
    Die gierig dich umschwärmt, die feilen Knechte
    Scheucht unsrer Heere Bann.
    Du trennst nicht mehr, was die Natur verbunden,
    Was e i n e m Stamm entsproß.
    Die Zwietracht ist, der Bruderzwist verschwunden
    Und du der Fessel los.
    Hinfort umschlingt verwandte Nationen
    Dein silbern Friedensband; v Schon reichen sich, die deinen Strand umwohnen, v Aufs neu die Bruderhand.

    Die Veröffentlichung dieser patriotischen Lyrik erfolgte 1814 nicht ohne Grund: Niemeyer dokumentierte damit seine innere Zugehörigkeit zum preußischen Staat, obwohl er Amts- und Würdenträger des westphälischen Königreiches war.
    Als die Kampfhandlungen im Befreiungskrieg sich dem Raum um Halle näherten, beherbergte er General Blücher in der Nacht vor der Völkerschlacht bei Leipzig in seinem Wohnhaus.
    Da die Universität durch Napoleon erneut geschlossen worden war, fühlte er sich nicht mehr an diesen gebunden und stellte seine Dienste der deutschen Freiheitsbewegung zur Verfügung. So richtete er sofort im Waisenhaus ein Lazarett für Verwundete ein und war der Wiedereinführung der preußischen Regeln und Gesetze umgehend behilflich.
    Zwar bat er um seinen offiziellen Rücktritt vom Amt des immerwährenden Rektors der Universität, er blieb jedoch Kanzler und als ständi-ger Berater des hohen Departments in Angelegenheiten der Universität und Kurator in Halle führender Sachverständiger auf dem Gebiet der Bildung und Erziehung. Außerdem wurde er von preußischer Seite mit dem Adlerorden dritter Klasse ausgezeichnet.
    Niemeyer schaffte den diplomatischen Spagat zwischen Preußen und Westphalen, nutzte seine Autorität und sein Ansehen für die Universität und die Franckeschen Stiftungen und wurde von beiden Regierungen als ein Mann angesehen, der zu den fähigsten und besten Köpfen Halles zählte.

    Zum Inhaltsverzeichnis:


    Die Vatersmutter: Agnes Wilhelmine Christiane von Köpken-Niemeyer
    (1769-1847)

    'Kanzlerin' Niemeyer
    Agnes Wilhelmine Christiane Niemeyer, geb. Köpken (1769-1847)
    Ölgemälde nach 1828

    Ihm zur Seite stand eine vortreffliche Frau, die seine öffentliche Wertschätzung zu untermauern verstand und durch ihr gewinnendes und entgegenkommendes Wesen so manche Schroffheit und Unnahbarkeit ihres Gatten glätten und ausgleichen konnte. Marianne Wolff, verwitwete Immermann, schreibt in dem für ihre Kinder aufgezeichneten Lebenslauf:
    "... die graziöse Liebenswürdigkeit der Großmutter hätte nicht der Folie der Unliebenswürdigkeit des Großvaters bedurft, um angenehm zu wirken."

    Der Salon der Niemeyers galt zwischen 1786 und 1828 als Tempel der edelsten Gastfreiheit, wie im Nekrolog der Deutschen, Jahrgang 1848, zu lesen ist.
    Die geselligen Abende, an denen nicht selten bis zu 100 Besucher teilnahmen, waren legendär. Man erfreute sich der Musik, der Literatur, der neuesten Dramen, so z. B. der noch handschriftlichen Fassungen von Schillers Wallenstein, Maria Stuart und Jungfrau von Orleans, die dann kurz danach am Lauchstädter Theater Goethes zur Aufführung gelangten. Bei Tee und Wein sprach man über Kunst und Wissenschaft. Die Seele der Gesellschaft war die Kanzlerin, die diesen Beinamen nicht nur als Gattin August Hermann Niemeyers erhielt. Im Neuen Nekrolog der Deutschen, Jahrgang 1848, steht:

    "August Hermann Niemeyer wußte, wie seine Frau auf Gäste wirkte, und benutzte ihre geselligen Fähig-keiten für seine vielen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Auswärtige Gäste, die zahlreich Eintritt in Niemeyers Haus begehrten, soll er lieber zu seiner Frau geführt haben, deren Bildung und echtes Interesse am Gespräch mit ihrem Gegenüber niemanden ohne Bewunderung von ihr scheiden ließ."

    In der Beschreibung des Salons der Frau Niemeyer sagt Jessika Piechocki:
    Eine Einladung ins Niemeyersche Haus galt als Eintritt in das, was man die ‚gute Gesellschaft’ nennt. Bei Niemeyers verkehrten neben Studenten - unter ihnen Arnold Ruge, Carl Loewe, Carl Ritter und Karl August Varn-hagen von Ense - bedeutende Zeitgenossen: die halleschen Professoren Johann Christian Reil, Friedrich Schleierma-cher und Henrich Steffens; die Ballenstedter Malerinnen Caroline und Wilhelmine Bardua; die Weimarer Schauspie-ler und Sänger Wilhelm Ehlers, Eduard Genast, Gertrud Elisabeth Mara und Johanna Sophia Friederika Petersilie sowie Pius Alexander Wolff und seine Frau Amalie; der Feldmarschall Blücher, der Prinzenerzieher Friedrich von Delbrück mit seinem Sohn Rudolph; der preußische König Friedrich Wilhelm III. mit seiner Frau Luise, Goethe mit seiner Frau Christiane und Friedrich Schiller, der Herzog Karl Eugen von Württemberg und seine Frau, der hallesche Romanschriftsteller August Lafontaine und Familie, der Historiker Johannes von Müller, die Musikerfamilie Reichardt aus Giebichenstein, der Übersetzer Johann Heinrich Voss mit seiner Familie und Carl Gustav von Brinckmann.

    Zum Inhaltsverzeichnis:


    Der Muttersvater: Friedrich von Köpken (1737-1811)

    Friedrich und Agnete Charlotte v. Köpken

    Friedrich v. Köpken (1737-1811)
    und
    Agnete Charlotte Köpken, geb. Reimers (1745-1781)


    Gepflegte Gastlichkeit und geselliges Leben war Agnes Wilhelmine Christiane (1769-1847) schon von klein auf gewöhnt. Ihr Vater, der Königliche Hofrat Friedrich von Köpken, (1737-1811) wußte sich seines Wohlstandes mit Geschmack zu bedienen. Seine schöngeistigen Interessen verbanden ihn mit Gleichgesinnten und Gleichgestellten im Kreise des Bildungsbürgertums. Durch ihn wurde das geistig-kulturelle Leben in der preußischen Festungsstadt Magdeburg in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts ganz wesentlich geprägt.

    Er hatte von l756 bis 1759 in Halle Jura studiert, und dank verwandtschaftlicher Verbindungen fand er sogleich Eingang in die gehobene Gesellschaft, wo Kunst und Wissenschaft in anregender Weise gepflegt wurden. Großen Wert legte er schon seit seiner Schulzeit auf dem Pädagogium Unser Lieben Frauen und vor allem im Kloster Berge auf die Ausbildung und Vervollkommnung seiner Rhetorik; dazu diente ihm sowohl ein Disputatorium an seiner Fakultät, als auch persönlicher Ehrgeiz, sich stets treffend und klar auszudrücken. Diese Fähigkeit nützte ihm auf dem Wege seiner Karriere sehr.
    1761 legte er in Berlin die juristische Staatsprüfung ab und wurde im gleichen Jahr als Regierungsadvokat nach Magdeburg berufen. Harte Arbeit zum Broterwerb hatte er nicht nötig. Er konzentrierte sich auf wenige Prozesse, bearbeitete diese aber mit größter Sorgfalt und führte sie sehr erfolgreich in geschliffener Sprache. Es blieb ihm genügend Zeit und Muße für gediegenes geselliges Leben. Mit einigen befreundeten Rechtsgelehrten schloß er sich zur Dienstags-Kranzgesellschaft zusammen, um in diesem Zirkel juristische Fragen in zwangloser Form zu erörtern.

    Daneben galt aber sein Hauptinteresse der schöngeistigen Literatur. Nach Vorbildern in Halle, Berlin und Halberstadt beförderte er die Gründung einer literarischen Verbindung, der Mittwochsgesellschaft, zu der sich Vertreter des preußischen Hofes, Honoratioren der Stadt und künstlerisch aktiv Tätige zusammenfanden. Dazu gehörten u. a. der Schriftsteller und Theologe Johann Samuel Patzke, der bekannte Konzertmeister und Komponist Johann Heinrich Rolle, der vielseitig gebildete reiche Bürger der Pfälzer Kolonie in Magdeburg Heinrich Wilhelm Bachmann, der Kaufmann Daniel Conrad Gleim, Bruder des Halberstädter Dichtervaters Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der häufig in Magdeburg weilte und an den Zusammenkünften teilnahm.
    Mit diesem fühlte sich Köpken bis zu dessen Tode 1803 eng verbunden. Neben vielen gegenseitigen Besuchen bestand zwischen ihnen ein reger, herzlich gehaltener Briefwechsel. Sie besprachen literarische, philosophische und religiöse Themen, aber auch ganz persönliche Ereignisse.
    In den 25 im Gleimhaus in Halberstadt archivierten Briefen Köpkens an Gleim liest man Stellen wie mein liebster Gleim, Ihr ewig treuer Köpken, oder Ich umarme Sie, mein liebster Freund. Aber auch im Gegenverkehr liest man über gleiche Wertschätzung, auch großes Lob über Köpkens Dichtungen wie z. B. dessen Gedicht zu Gleims 72. Geburtstag oder zu dessen "Hymnus auf Gott". Am 1. Juli 1781 schreibt Gleim an August Hermann Niemeyer: "Lauchstädt werd ich nicht besuchen in diesem Jahr - aber nach Halle flieg ich, sobald es möglich zu machen ist, auf ein paar Tage. Herrlich wäre, wenn ich unseren Köpken dort fände."

    Die Mittwochsgesellschaft spielte auch im öffentlichen Leben der Stadt Magdeburg eine ständig größer werdende Rolle, und es entwickelten sich Verbindungen zu Persönlichkeiten und ähnlichen Interessengruppierungen in Berlin, Halle, Weimar, Jena, Dresden usw.

    Weitere bedeutende Persönlichkeiten kamen hinzu, wie z. B. der Probst des Klosters Unser Lieben Frauen Gotthelf Sebastian Rötger, der Abt und Generalsuperintendent des Herzogtums Magdeburg Friedrich Gabriel Resewitz, der berühmte Begründer des Philanthropismus Johann Bernhard Basedow, der Rektor des Domgymnasiums und Schriftsteller Gottfried Benedikt Funk, der Präfekt des Elb-Departments des Königreiches Westphalen Philip Ernst Graf von der Schulenburg-Emden, Die Bischöfe Franz Bogislaus Westermeier und Heinrich Bernhard Dräseke, der Staatsminister Anton Wilhelm von Klewitz, die Magdeburger Obergürgermeister August Wilhelm Francke und Karl Gustav Friedrich Hasselbach. Die Liste klingender Namen ließe sich weiter fortsetzen mit hohen preußischen Beamten und Militärs. Zu den Gästen der Gesellschaft gehörte auch August Hermann Niemeyer, ein langjähriger Freund Köpkens.

    Über das Wesen und die Inhalte dieser Mittwochsgesellschaft, die zwar ihren Namen mehrfach änderte und als Gelehrter Club, als Die Lade oder als Literarische Gesellschaft auftrat und fortbestand bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat Herr Dr. Heiko Borchardt eine interessante und informative Abhandlung geschrieben, die im Jahrbuch 4/2003 der Immermann-Gesellschaft veröffentlicht worden ist.
    Auf der Internationalen Tagung vom 22. bis 24. November 2001 zum Thema Carl Leberecht Immermann und die deutsche Biographie zwischen 1815 und 1850 und zur Veranstaltung am 2. Oktober 2002 im Literaturhaus Magdeburg hat Herr Borchardt referiert zum Thema: Bildungshintergründe: Stadtkultur und Geselligkeit in Magdeburg um 1800. Am Beispiel Köpken.

    1764 fand in Magdeburg unter dem Dirigat von Johann Heinrich Rolle auf Köpkens und Bachmanns Betreiben das erste öffentliche Konzert statt,"woran alle gesitteten Stände der Stadt ohne Unterschied zwischen Adel und Bürgerstand teilnahmen, eine Mischung, die unter dem sonst braven General und Gouverneur von Saldern, dessen schwächere Seite doch über-triebener Adelsstolz war, allerdings wichtig und eine Hauptveranlassung ward, daß dieser Unterschied zwischen beiden Ständen in der Folge in den gesellschaftlichen Cirkeln mehr und mehr verschwand."

    Weiter lesen wir in Köpkens Lebensgeschichte für seine Kinder:
    In der Folge machte ich Herrn Rolle Niemeyers Bekanntschaft. Dieses ward auch für das Publikum dadurch wichtig, daß Niemeyer für Rolle seine bekannten vortrefflichen Dramen dichtete und ihn dadurch neu begeisterte. Rolle führte sie mit dem ausgezeichnetsten Beifall in diesen bis an seinen Tod fortdauernden Concerten auf. Diese Concerte sind von seinem Nachfolger Zachariae, einem Manne von vielem Genie, bald auf Rolles Concertsaale, bald im Freimaurerhause fortgesetzt, ...

    Als der Komponist Rolle 1785 starb, veranlaßte Köpken in Magdeburg ein Gedenkkonzert, ein sogenanntes Totenopfer, wozu August Hermann Niemeyer einen Text verfaßte, der von Johann Friedrich Lebrecht Zacharias vertont wurde. Dieser Dirigent, Organist, Musikpädagoge und Komponist schrieb auch die Musik zu Köpkens Hymnus auf Gott und dessen Scolien, oder Gesänge bey freundschaftlichen Mahlen.

    Auch in einer anderen Hinsicht wurde Zacharias bedeutsam im Hause Köpkens: Er erteilte der ältesten Tochter Agnes Wilhelmine Christiane Klavierunterricht; und das mit größtem Erfolg. Bereits nach zwei Jahren war die zehnjährige kleine Pianistin in der Lage, in Hauskonzerten ihr Können zu zeigen; sehr zur Freude und Befriedigung des stolzen Vaters.
    Dieser schreibt in seiner Lebensgeschichte:
    Mit ihrer Bildung habe ich mich am meisten abgegeben, und ihr heller Kopf, ihre Lernbegierde und der gute Erfolg belebten und belohnten meine Bemühung.
    Der Vater liebte es, sich von seiner Tochter auf dem Klavier vorspielen zu lassen. Bald lud er sich Freunde dazu ein; und bei sich ständig erweiterndem Kreis der Zuhörer nahm die Sicherheit im Spiel des jungen Mädchens zu, und es entstanden schließlich Hauskonzerte in zunehmender Perfektion. Unter Rolles Leitung wurden u. a. die Niemeyerschen Dramen Abraham und Lazarus mit voller Begleitung aufgeführt. Nochmals aus Köpkens Lebensgeschichte:
    In der Folge vermehrten wir die Begleitung unserer Clavierconcerte noch durch Webers, des Stadtmusikus, Contraviolon und Nires Teilnahme. Wir blieben den Abend freundschaftlich zusammen, und gemeiniglich wurden 8 bis 9 größere Partien gemacht, wo meine Tochter manchen Abend 3 Concerte spielte. Dieser musikalische Zeitpunkt gab meinem Hause ein neues Leben. Mancher fremde hier durchreisende Musiker, z. B. Hiller, Wolf, Schulz und andere, und verschiedene meiner Freunde als Liebhaber nahmen daran teil. Das dauerte bis ins Jahr 1786, wo meine Wilhelmine den Professor Niemeyer heiratete. Diesen edeln Mann kannte ich schon seit 1774. Auch uns verband zuerst die gemeinsame Liebe zu den Musen. Ich war mit ihm im Briefwechsel und freundschaftlichem Umgang. Seine musikalischen Gedichte, die er für Rolle arbeitete, und die hiesigen Aufführungen sowohl als seine freundschaftliche Zuneigung zu meinem Hause führten uns oft zusammen. ... Er kannte meine Tochter früh und knüpfte, nachdem er Professor geworden, das jetzige glückliche Band mit ihr. So schwer mir die Trennung von einer so geliebten Tochter besonders im Anfange ward, so preise ich doch gerührt die Vorsicht, die ihr Schicksal in den Armen eines so würdigen Mannes so glücklich gemacht hat.

    Neben perfektem Klavierspiel brachte die junge, gerade 17jährige Braut auch eine gute Singstimme und weitreichende Kenntnisse auf dem Gebiete der Poesie und schönen Literatur in die Ehe ein, die am 6. Oktober 1786 in der St. Ulrichskirche in Halle gegründet wurde. Von Anfang an war sie als die Frau eines bekannten und berühmten, doppelt so alten Mannes in der Lage, ihren anspruchsvollen, repräsentativen Aufgaben gerecht zu werden. Zwar führte zunächst Frau Lysthenius den Haushalt mit gewohnt strenger Hand weiter, bald aber wurde Agnes Wilhelmine zum vereinigenden Mittelpunkt der Familie, wie es später der Enkel Konrad August Niemeyer zum Ausdruck brachte. Im Laufe der 41 Ehejahre wurden 15 Kinder geboren, von denen allerdings nur zwei Söhne und zwei Töchter die Mutter überlebten. Für ihren Mann war sie in allen Lebenslagen und schwierigen Situationen eine treue und absolut zuverlässige Stütze und Beraterin. Sowohl berufliche und öffentliche Probleme als auch wissenschaftliche und die Kunst betreffende Fragen wurden zwischen den Eheleuten erörtert und gemeinsam geklärt. Er konnte sich rückhaltlos auf sie verlassen.

    In dem Buch Auf dem Berliner Bahnhof von Felix Wolff, dem jüngsten Sohn Marianne Wolffs, verwitwete Immermann, reflektiert dieser über seine Vorfahren:
    Unsere Mutter war die älteste Tochter des schon erwähnten Arztes Dr. Eduard Niemeyer in Magdeburg, dieser das dritte Kind der mit 15 Kindern gesegneten Ehe des Kanzlers Niemeyer in Halle und seiner Frau, einer geborenen v. Köpken. Beide waren sie weit über den Durchschnitt herausragende Persönlichkeiten. Der Gatte, Direktor der Franckeschen Stiftungen in Halle, bekleidete die hohe Würde eines Kanzlers der Universität. Hervorragender Pädagoge und Theologe, auch Dichter heute noch gesungener Kirchenlieder, z. B. "Ehre sei Gott in der Höhe, der Herr ist geboren" (Hamburgisches Gesangbuch Nr. 9), war er einer der bedeutendsten Männer aus dem an hervorragenden Leuten reichen Geschlecht der Niemeyer, das seinen Stammbaum bis 1515 zurückführt und sich der Herkunft August Hermann Franckes rühmen kann. Ihm wurde merkwürdigerweise, ebenso wie unserem Großvater Wolff, die "Ehre", als Geisel von Napoleon I. fortgeschleppt zu werden.
    Eine wohl noch bedeutendere Persönlichkeit muß seine Gattin gewesen sein, die als "Kanzlerin Niemeyer" zu ihrer Zeit in der gebildeten Welt Deutschlands eine nicht geringe Rolle gespielt hat. Findet man sie doch in vielen Biographien jener Zeit erwähnt! Eine treue Mutter ihrer zahlreichen Kinder, eine ganz vorzügliche Hausfrau, die ihre Wirtschaft bis in die kleinsten Einzelheiten leitete, war sie hoch gebildet, äußerst gewandt und von höchstem Wissensdrang erfüllt. So verfolgte sie die literarischen Erscheinungen des Tages, trieb Englisch und Französisch und ließ auch die Musik nicht liegen. Unbemittelte Studenten und Schüler des Pädagogiums der Franckeschen Stiftungen fanden ihren Tisch bei der Kanzlerin gedeckt und empfingen und gaben geistige Nahrung.

    Zum Inhaltsverzeichnis:


    Der berühmteste Urahn: August Hermann Francke (1663-1727)

    August Hermann Francke
    August Hermann Francke (1663-1727)
    Kupferstich von Johann Georg Wolffgang
    nach Antoine Pesne, 1730

    In diesem Ausschnitt aus obengenanntem Buch wird die herausragende Bedeutung August Hermann Franckes mit berechtigtem Familienstolz erwähnt.

    Dieser beseelte Christ, Theologe von außerordentlicher Überzeugungskraft, nach innerer Berufung handelnde Pädagoge und auch weitsichtige Organisator hat in etwa 30 Jahren unermüdlicher Tätigkeit in Halle zum allgemeinen Wohle der Armen, der Waisen, der heranwachsenden Jugend ein Lebenswerk geschaffen, das seinesgleichen sucht und soziale, kulturelle, pädagogische, geistlich-theologische und wissenschaftliche Impulse nicht nur in deutsche Lande und europaweit, sondern nach Übersee und bis nach Indien ausstrahlte. Das Prinzip der christlichen Nächstenliebe war die Grundlage seines Strebens und Wirkens. Einen Pflanzgarten wollte er schaffen, von dem aus eine reale Verbesserung in allen Ständen in und außerhalb Deutschlands ausgehen sollte.

    August Hermann Francke wurde am 22. März 1663 in Lübeck geboren. Sein Vater Johannes Francke war ein aus Thüringen stammender Jurist, seine Mutter Anna eine geborene Gloxin, Sproß einer angesehenen und einflußreichen Familie der Hansestadt.
    1666 wurde der Vater als Hof- und Justizrat an den Hof Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha-Altenburg berufen.
    Nach intensivem Privatunterricht und Besuch des in sehr gutem Ruf stehenden Gothaer Gymnasiums erlangte August Hermann Francke, erst fünfzehnjährig, die Universitätsreife. Neben dem Theologiestudium in Erfurt und Kiel eignete er sich die hebräische Sprache an, die er ab 1684 in Leipzig selbst unterrichtete.
    1685 erfolgten Magisterpromotion und Habilitation zum Thema Hebräische Grammatik, so daß er befähigt war, an der Philosophischen Fakultät in Leipzig biblisch-philologische Vorlesungen zu halten. Daneben setzte er sein Theologiestudium fort.
    Durch die Bekanntschaft mit Philipp Jakob Spener (1635-1705) lernte er das Reformprogramm des lutherischen Pietismus kennen.
    In den 1675 erschienenen Frommen Wünschen (Pia desideria) hatte der bekannte und auch umstrittene Theologe Spener ein lebendiges, persönlich-existentielles Verhältnis der Christen zur Bibel gefordert. Dieses Werk sowie ein ganz persönliches Gebets- und Bekehrungserlebnis spornten August Hermann Francke an, einen lebendigen, aktivierenden und die Welt befreienden Glauben zu predigen, um seinen individuellen Beitrag zur Weltverwandlung durch Menschenverwandlung zu leisten. Dieses pietistische Gedankengut brachte ihn auch in religiöse Auseinandersetzungen, zur Amtsenthebung und Ausweisung aus Erfurt, wo er für etwa ein Jahr ein Pfarramt begleitet hatte.

    Am 22. November 1691 wurde August Hermann Francke als Pfarrer an die St. Georgenkirche in Glaucha, damals ein Vorort von Halle, und zum Professor für Griechisch und orientalische Sprachen an die sich gerade bildende Universität Halle berufen. Offiziell wurde diese am 12. Juli 1694 vom brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. gegründet, und sie erhielt dessen Namen.
    Durch die Berufung des Rechtsgelehrten Christian Thomasius (1655-1728) des Philosophen Christian Wolff (1679-1754) und des Theologen August Hermann Francke (1663-1727) entwickelte sich die Universität Halle innerhalb weniger Jahre zur führenden Bildungsstätte der deutschen Aufklärung und des Pietismus.
    17O1 erhob Friedrich III. sein Kurfürstentum zum Königreich Preußen und krönte sich selbst zum König Friedrich I. Vom fortschrittlichen Geist, von Toleranz und Religionsfreiheit in Preußen profitierte nicht nur Berlin, sondern auch Halle. Der König förderte Kultur und Wissenschaft großzügig und hatte auch ein stets offenes Ohr für die pädagogischen Einrichtungen, die August Hermann Francke um die Jahrhundertwende errichtete.

    Zunächst aber kümmerte sich Francke um seine arme und verelendete Pfarrgemeinde in Glaucha. Den Lebensunterhalt verdienten die Bewohner des Ortes hauptsächlich durch die Herstellung von Stärke und Branntwein sowie durch Bierausschank. Von den etwa 200 Gebäuden waren 37 Wirtshäuser.
    In den Jahren 1681/82 hatte die Pest in Halle gewütet, und die Einwohnerzahl Glauchas war von 1200 auf 744 gesunken. Außerdem hatten zwei Stadtbrände das allgemeine Elend weiter vermehrt. Es gab zahlreiche verwaiste Kinder, um die sich niemand kümmerte. Die bisherige orthodoxe Geistlichkeit verkündete die "reine christliche Lehre", ohne sich um die Not der Menschen zu bemühen. Das stellte für Francke eine große Herausforderung dar, und er begann sein bedeutendes Werk der tätigen Nächstenliebe.

    Passioniert und zielgerichtet startete er umgehend, seine pietistischen Reformideale in Glaucha zu verwirklichen. Er sah als das wichtigste Ziel des religiösen Lebens die Veränderung der persönlichen Lebensgestaltung. Von der Kanzel her wirkte er auf seine verwilderte Gemeinde ein, vor allem aber begann er sofort, sich um die verwaisten Kinder zu kümmern, ihnen eine warme Mahlzeit zu verschaffen und sie zu erziehen und zu bilden.

    Einen entscheidenden Anschub erhielt August Hermann Francke, als er um Ostern 1695 eine Spende von 4 Talern und 16 Groschen in der Kollekte seiner Kirche fand. Er schrieb darüber:
    "Als ich dieses in die Hände nahm, sagte ich mit Glaubens-Freudigkeit: das ist ein ehrlich Capital, davon muß man etwas rechtes stiften; ich will eine Armen-Schule damit anfangen".

    Dieses Geld war die finanzielle Grundlage, mit der Francke die aktive Phase einer umfassenden Bautätigkeit begann. Aus der Armenschule, die bereits 1695 eröffnet wurde, erwuchsen weitere schulische Einrichtungen, so 1697 die Lateinschule, die auch heute noch nach mehr als 300 Jahren fortbesteht und jetzt den Namen Landesgymnasium Latina August Hermann Francke trägt. Für zahlungskräftige Schüler entstanden das Königliche Pädagogium und eine Töchterschule, das Gynäceum. Studenten der Universität wurden zum Unterrichten herangezogen, und die minderbemittelten unter ihnen verdienten sich auf diese Weise Unterkunft und Verpflegung.
    Im Juli 1698 legte August Hermann Francke den Grundstein zum Bau des Waisenhauses, und bereits zwei Monate später wurde dieses Unternehmen durch ein kurfürstliches Privileg abgesichert, welches eine juristische Grundlage garantierte, Steuervergünstigungen und großzügige Unterstützung des Königshauses gewährte.
    Bereits 1701 konnte der stattliche, von einigen als überdimensioniert bezeichnete Bau seiner Bestimmung übergeben werden.
    Im Treppenhaus findet der Besucher auf einer Holzplatte in Goldschrift den Spruch:
    Fremdling! was du erblickt
    hat Glaube und Liebe vollendet.
    Ehre des Stiftenden Geist,
    glaubend und liebend wie Er.

    Von der Immermannschen Familie wissen wir, daß unseres Dichters Vater Gottlieb Lebrecht Immermann (1750-1814) die drei obersten Klassen der Lateinschule besuchte und dann Rechtswissenschaft in Halle studierte und daß dessen Halbbruder Gottfried Reinhard Immermann (1760-1822), "Onkel Yorick", 1777 das Waisenhaus Halle verließ, um die Welt zu erobern.

    Bau und Inbetriebnahme weiterer Einrichtungen, auch wichtiger Wirtschaftsunternehmen folgten, so z.B. auf dem Gebiet der Land- und Forstwirtschaft, um die Versorgung der Waisenkinder, Schüler, Studenten und Mitarbeiter zu sichern.

    1698 nahmen die Buchdruckerei und 1701 der Verlag des Waisenhauses ihre Arbeit auf. Neben den religiösen Schriften Franckes und Speners wurden auch Werke anderer Pietisten verlegt. Schon 1698 wurden Druckerzeugnisse des Waisenhauses auf der Leipziger Herbstmesse angeboten und 1700 konnten dort Bücher im Wert von 4582 Talern verkauft werden. 1702 wurde die erste Buchfiliale in Anwesenheit Franckes in Berlin eröffnet, weitere Niederlas-sungen entstanden in Leipzig und Frankfurt am Rhein. Von 1706 an brachte das Verlagswesen ständig steigende Einnahmen, und ab 1717 flossen Gewinne aus dem Verlags- und Buchgeschäft von 2500 Talern jährlich in das Waisenhaus.

    1710 entstand ein zwar juristisch getrenntes, inhaltlich aber gemeinsames Unternehmen zum Druck und Vertrieb der Bibel zu einem geringen Preis, um auch armen Menschen den Erwerb einer eigenen Bibel zu ermöglichen. Später erhielt diese Produktionsstätte den Namen Cansteinsche Bibelanstalt. Hier wurde ein Buchdruckverfahren mit einem wiederverwendbaren stehenden Drucksatz entwickelt, mit dem man wesentlich kostengünstiger arbeiten konnte. 1712 erschien die erste Ausgabe des Neuen Testaments zum sensationellen Preis von 2 Groschen, die ganze Bibel war für 6 Groschen, später für 10 Groschen erhältlich. Durch die derzeit moderne Waisenhaus-Orthographie erfolgte außerdem eine Förderung der deutschen Sprachkultur.

    Die Druckerei des Waisenhauses veröffentlichte jedoch nicht nur Erzeugnisse in deutscher Sprache. Franckes Vorstellungen von einem weltweiten Heilsangebot des Christentums waren von Anfang an nicht nur auf seinen unmittelbaren Wirkungsbereich in Halle fokusiert. Er stellte sich vor, daß von dieser Stadt Gottes Botschaften in alle Welt gehen würden.
    Bei diesen Bestrebungen fand Francke Unterstützung bei dem in London lebenden, aber viel umherreisenden Gelehrten, Staatsmann und Diplomaten Heinrich Wilhelm Ludolf (1655 - 1712), der den Gedanken einer allgemeinen universellen Kirche vertrat und auf seinen Weltreisen Kontakte im Sinne des halleschen Pietismus knüpfte.
    Auf dessen Bitte delegierte Francke den befreundeten Theologen Justus Samuel Scharschmid (1664-1724) nach Moskau, der sowohl dort, als auch in Sibirien und anderen Gebieten Rußlands wirkte, Druckschriften aus Halle verteilte, russische Studenten nach Halle sandte, so daß Zar Peter der Große auf Franckes Reformwerk aufmerksam gemacht wurde und Abgesandte nach Preußen schickte, um an Ort und Stelle Erfahrungen zu sammeln.

    Francke schaffte 1703 für seine Waisenhausdruckerei kyrillische Drucktypen an und erlernte selbst die russische Sprache. Als Professor für orientalische Sprachen an der Universität galt natürlich sein Interesse den orientalischen Nationalkirchen, wie z. B. der koptischen, äthiopischen und armenischen, deren Erneuerung im Geiste eines bibelorientierten Christentums ihm am Herzen lag. Über den Diplomaten Ludolf erhielt er auch in diesen Ländern Verbindungen zu teilweise hochrangigen Vertretern dieser Kirchen.

    1702 gründete Francke an der Universität das Collegium orientale theologicum, das erste wissenschaftliche Institut auf deutschem Boden, in dem unter der Leitung von Johann Heinrich Michaelis (1668-1738) zwölf sprachbegabte Studenten ihre bibelwissenschaftlichen Studien begannen und neben dem Hebräischen auch Chaldäisch, Syrisch, Samaritisch, Arabisch und Äthiopisch erlernen konnten. Von großer wissenschaftlicher Bedeutung war die 1720 abgeschlossene Ausgabe der hebräischen Bibel.

    Franckes pietistisches Wirken erregte auch in Westeuropa Aufmerksamkeit, vor allem in England. Dort war es am Ende des 17. Jahrhunderts in der Anglikanischen Kirche zu Erneuerungsbestrebungen gekommen, die dem deutschen Pietismus ähnelten. Sowohl Heinrich Wilhelm Ludolf als auch August Hermann Francke wurden Mitglieder der Society for Promoting Christian Knowledge, die sich besonders dem Aufbau von Armenschulen und der Verbreitung von christlicher Erbauungsliteratur widmete. Es bestand also großes Interesse an Franckes Theorie und Praxis. Seine Schriften erschienen in englischer Sprache, junge Engländer kamen in beachtlicher Anzahl zur Ausbildung nach Halle, so daß die Unterbringungsmöglichkeiten auf dem Gelände der Waisenhausanlage erweitert werden mußten und deshalb dort 1711 das Englische Haus erbaut wurde.

    Auch auf die nordamerikanischen Kolonien dehnte sich der Einfluß des halleschen Pietismus aus. Nach dem Vorbild des Waisenhauses in Halle wurden dort ähnliche Einrichtungen gegründet und geführt. Finanzielle Zuwendungen aus Übersee waren keine Seltenheit.

    Geradezu spektakulär verlief Franckes internationales Projekt seiner indischen Mission. Der Impuls dazu war vom dänischen König Friedrich IV. (1671-1730) ausgegangen. Francke erfüllte dessen Ersuchen und sandte zwei fähige junge Theologen, Bartholomäus Ziegenbalg (1682-1719) und Heinrich Plütschau (1677-1746), über Kopenhagen nach Indien. Sie erlernten dort die malabarische Landessprache und begannen nach halleschem Vorbild dort das erste evangelische Missionswerk aufzubauen. Es entstanden Schulen, auch für Mädchen - ein absolutes Novum in diesem Lande.
    Die "Dänisch-Hallesche-Missionsgesellschaft", die 1706 von Francke gegründet worden war, wirkte für die Menschen dort sehr segensreich und wurde zunehmend von Halle ausgehend europa- und auch weltweit beachtet. Der Briefwechsel zwischen Francke und den Missionären, der Anleitung und auch Kritik enthielt, der ab 1710 in den "Halleschen Berichten" gedruckt wurde und bald auch in englischer Sprache erschien, stellt bis in die gegenwärtige Zeit eine wichtige Quelle für die Indienforschung dar. Die heutige Evangelisch-lutherische Tamilenkirche geht auf Franckes Missionsbestrebungen zurück.

    August Hermann Francke setzte aber vom Beginn seiner Tätigkeit in Halle an noch weitere Aktivitäten in Gang. Im 1701 eingeweihten neuen Waisenhaus brachte er neben der Buchdruckerei auch eine Buchbinderei, einen Buchladen sowie die schon 1698 eingerichtete Apotheke unter. Er erwirkte für seine Anstalten die Back- und Braugerechtigkeit sowie das Vorkaufsrecht für sämtliche umliegenden, unbebauten Grundstücke. Von den Handwerkszünften erhielt er die Zusage, daß seine Waisenkinder ohne Vorlage einer Geburtsurkunde als Lehrlinge aufgenommen werden konnten. Auch ab 1698 begann er eine Naturaliensammlung für Unterrichtszwecke anzulegen und eine Bibliothek zur eifrigen Benutzung seiner Zöglinge und Studenten einzurichten.

    1699 hatte er den Arzt und Apotheker Christian Friedrich Richter (1676 - 1711) für sein Waisenhaus gewonnen, und diesem war 1701 die Herstellung eines hochwirksamen und begehrten Medikaments, der "Goldtinktur" gelungen, die den Namen "ESSENTIA DULCIS HALLENSIS" erhielt. Die steigende Nachfrage nach diesem Heilmittel gegen Entzündungen aller Art, Krämpfe und Epilepsie bewirkte einen schwungvollen Handel , und es setzte eine Medikamentenexpedition ein, die dem Waisenhaus beachtliche finanzielle Gewinne einbrachte und die Apotheke zu einer profitablen Einrichtung werden ließ. Auch als Handelsunternehmer verschaffte Francke seinen Anstalten Einnahmen, so im internationalen Geschäft mit Gold, Silber, Kupfer, Kaffee, Wein, russischem Kaviar und türkischen Teppichen.

    Sowohl selbsterwirtschaftete Mittel als auch reichlich eingehende Spenden bildeten Grundlage für weitere Landkäufe und intensive Bautätigkeit. 1709 entstand ein dreistöckiger Fachwerkbau für Waisenmädchen und die Mädchenschule, 1709/10 das Englische Haus, 1710/11 ein Verbindungsbau mit dem Speisesaal, von 1711 bis 1713 ein Neubau für das Pädagogium regium. 1715 wurde ein Brauhaus in Betrieb genommen und 1717/18 wurde eine zweite Wasserleitung gebaut.
    Zur Unterbringung der wachsenden Zahl von Schülern entstand das "Lange Haus", einem sechsgeschossigen Fachwerkgebäude mit 6 Eingängen, das heute als der größte Fachwerkbau Europas gilt. 1721 begann der Bau eines Krankenhauses für Waisenkinder, mittellose Schüler und Studenten. Zwischen 1726 und 1728 entstand ein neues Bibliotheksgebäude, das noch heute mit der Kulissenbibliothek nach englischem Vorbild bestaunt werden kann und der älteste noch existierende Bibliothekszweckbau Deutschlands ist.

    Im Todesjahr Franckes 1727
    "unterrichteten an den deutschen Schulen 106 Lehrer 1725 Kinder, an den lateinischen Schulen 32 Lehrer und drei Inspektoren 400 Schüler und am Pädagogium Regium 27 Lehrer und ein Inspektor 82 Zöglinge. Im Waisenhaus waren 100 Jungen und 34 Mädchen mit zehn Erziehern untergebracht. An den Freitischen wurden täglich 255 Studenten und 150 arme Schüler verpflegt. Zusammen mit den Mitarbeitern in den Wirtschaftseinrichtungen boten die Stiftungen Raum für über 3000 Personen, für die teilweise die volle Versorgung zu tragen war."

    Am Ende des 240 m langen Lindenhofes, der beidseitig mit den historischen Gebäuden besetzt ist, steht seit 1829 ein von Christian Daniel Rauch (1777-1857) geschaffenes Denkmal für den Schöpfer dieses beeindruckenden Ensembles. Es zeigt August Hermann Francke in schützender und belehrender Pose zwischen zwei Kindern. Auf dem von Schinkel geschaffenen Sockel befindet sich die Inschrift:

    "Er vertraute Gott."


    Noch ein bekannter Urahn: Johann Anastasius Freylinghausen (1670 - 1739)

    Erwähnen möchte ich noch Johann Anastasius Freylinghausen (1670 - 1739), den langjährigen Mitstreiter, Freund und ab 1715 Schwiegersohn Franckes, der ab 1695 zunächst als Hilfspfarrer in der Gemeinde Glaucha wirkte, aber mehr und mehr zum Berater, Mitgestalter und treuen Stellvertreter Franckes wurde.
    Nach dessen Tod übernahm er das Direktorat der Waisenhaus-Stiftungen. Ihm verdankt die Nachwelt das zweiteilige Gesangbuch, eine reichhaltige Sammlung deutscher Andachtslieder des 17. Jahrhunderts, die dem religiösen Gemeinschaftssingen dienten.
    Aus der Ehe Freylinghausens mit Franckes Tochter Johanna Sophie Anastasia gingen drei Kinder hervor, zwei Töchter und ein Sohn, die alle mit Franckes Stiftungen verbunden blieben.
    Die Tochter Auguste Sophie heiratete Johann Conrad Niemeyer, und dieser Ehe entstammte August Hermann Niemeyer, Marianne Immermanns bedeutender Großvater, der in die nunmehr 300jährige Geschichte der Franckeschen Stiftungen als Bewahrer, Erneuerer, ja als zweiter Gründer derselben einging.


    Literaturquellen:

    Peter Hasubek (Hg.): Karl Leberecht Immermann: Briefe. Bd.2 1832-1840. München-Wien1979, S.821f. [Zurück]

    Felix Wolff/ Walter Birnbaum (Hg.): Marianne Wolff geborene Niemeyer, die Witwe Karl Immermanns. Leben und Briefe. Hamburg 1925. [Zurück]

    Carl Eduard Niemeyer: Singularis in foetu puellari recens edito abnormitatis exemplum descriptum et illustratum. Halle 1814.[Zurück]

    Marianne Wolff, a.a.O. S.11. [Zurück]

    Gertrud Bergmann: Inaugural-Dissertation zur Erlangung der med. Doktorwürde der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. 1934. [Zurück]

    Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. Bd.4. S.367. Berlin/Wien, 1932. [Zurück]

    Guido Heinrich / Gunter Schandera (Hg.): Magdeburger Biographisches Lexikon. 19. und 20. Jahrhundert. Magdeburg, 2002. [Zurück]

    Veranstaltungskatalog März 2004 bis Februar 2005. Aufklärung durch Bildung. Kulturelles Themenjahr in Sachsen-Anhalt. Wissenschaftliche Projektbetreuung: Lars-Thade UlrichS.Franckesche Stiftungen Halle, S.81 [Zurück]

    Licht und Schatten. August Hermann Niemeyer. Ein Leben an der Epochewende um 1800. Herausgegeben von Brigitte Klosterberg. Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle, 2004, S.8 [Zurück]

    Anmerkungen über Sterbefälle von 1818 - 1874 der Marktkirche Unser Lieben Frauen zu Halle an der Saale. Marienbibliothek. An der Marienkirche 1, Halle (Saale). [Zurück]

    Niemeyer; zitiert nach Ulrich Herrmann: August Hermann Niemeyer - Theologe, Pädagoge, hallescher Patriot. In: Licht und Schatten. a.a.O. [Zurück]

    Hans-Joachim Kertscher: Zwischen Tradition und Erneuerung. Niemeyer und die hallesche Universität. In: Licht und Schatten. a.a.O. [Zurück]

    August Hermann Niemeyer: Hoffnungslied im Angesicht des Rheins. In: Religiöse Zeitlieder und vaterländische Gedichte. Halle und Berlin. Waisenhaus, 1814. S.33-35. In: Licht und Schatten, a.a.O. S.151. [Zurück]

    In: Licht und Schatten. a.a.O. S.151.[Zurück]

    Marianne Wolff, a.a.O. S.15. [Zurück]

    Jessika Piechocki: Der Salon der Frau Niemeyer. In: Licht und Schatten. S.233. [Zurück]

    Brief Nr. 1 von Gleim an Niemeyer vom 01.07.1781, Halberstadt. Inventar-Nr. 6069. Gleimhaus Halberstadt. [Zurück]

    Heiko Borchardt: Bildungshintergründe: Stadtkultur und Geselligkeit. In: Magdeburg um 1800. Am Beispiel Köpken. Immermann-Jahrbuch 4/2003. S.23-38. [Zurück]

    Friedrich von Köpken: Meine Lebensgeschichte, besonders in Rücksicht auf Geistes- und Charakterbildung. Für meine Kinder aufgesetzt im September 1794.: Familien-Nachrichten für die Nachkommen August Hermann Franckes. Halle 1916, S.1-63. [Zurück]

    Felix Wolff: Auf dem Berliner Bahnhof. Das Leben einer Hamburger Familie um 1860. Hamburg 1925. S.29f. [Zurück]

    Helmut Obst: August Hermann Francke und die Franckeschen Stiftungen in Halle. Göttingen 2002. [Zurück]

    Vier Taler und sechzehn Groschen. August Hermann Francke, der Stifter und sein Werk. Franckesche Stiftungen Halle 1998.[Zurück]

    Friedrich de Boor: August Hermann Francke (1663 - 1727). In: Theologische Realenzyklopädie. Berlin/New York l983. S.313. [Zurück]


    Einige Vorfahren Marianne Niemeyers

    Marianne Niemeyer
    1819-1886
    Carl Eduard Niemeyer
    1792-1837
    oo Charlotte Nitze
    1797-1825
    August Hermann Niemeyer
    1764-1828
    oo 1786
    Agnes Wilhelmine Christiane v. Köpken
    1769-1847
    .
    Johann Conrad Philipp Niemeyer
    1711-1767
    Auguste Sophie Freylinghausen
    -1763
    Friedrich v. Köpken
    1737-1811
    Agnete Charlotte Köpken geb. Reimers 1745-1781
    Johann Anastasius Freylinghausen
    1670-1739
    oo 1715
    Johanna Sophie Anastasia Francke
    August Hermann Francke
    1663-1727

    Alle Rechte der - auch auszugsweisen - Vervielfältigung zum Zweck der kommerziellen Verbreitung bei der Verfasserin.


    Zitieren dieses Textes

    Brigitte Köther: Stadt-, land- und weltbekannte Vorfahren der Marianne Immermann, geborene Niemeyer. 2005 [http://ernstherbst.online.de/cli/igm/2005_bk] und Datum der Einsichtnahme


    Text eingegeben: E. Herbst, 21.04.2008
    Letzte Änderung: 25.04.2008


    Impressum und Autor
    e.imwinkel@web.de