Ernst Herbsts
unveröffentlichte oder publizierte Leserbriefe, wohlwollende Besprechungen und wirkungslose Appelle


Am Tag, als die Einheit kam . . .

Am 3. Oktober 1990 schrieb ich für das Stadtjournal, das Magdeburger Informationsblatt der PDS, die Gedanken und Eindrücke auf, die mich, einen "gelernten DDR-Bürger", am vielbejubelten ersten Einheitstag bewegten. Mit den Jahren ist das nun schon ein Zeitdokument geworden.
29.06.2008


Magdeburg, 3. Oktober 1990

Vielleicht wird mich eines fernen Tages mein/e Urenkel/in fragen, was ich an jenem Tage tat, als wieder einmal ein großer deutscher Staat entstanden war...

Das erste Schriftstück, mit dem ich in dem neuen Staat zu tun hatte, war ein bundesdeutsches Formular, werde ich sagen. Eine Erklärung als "Elternteil" (das ist also nicht nur ein DDR-Schulsprach-Wort!) für meinen zweiundzwanzigjährigen Sohn, die er für einen Antrag auf BAföG benötigte.
Da waren Informationen über die Person und über das Einkommen gefordert, über die lange nachzudenken war - die bundesdeutsche Amtssprache muß erst erlernt werden. Und man muß sich daran gewöhnen, daß man nun für die Finanzierung des Studiums seiner Kinder bis zu deren 27. Lebensjahr finanziell verantwortlich ist, wenn man nicht das zweifelhafte Glück hat, zum letzten Drittel der Gesellschaft zu gehören.

Dann habe ich etwas gearbeitet. Das mußte man schon, wenn man noch einen Arbeitsplatz hatte - ein beträchtlicher Teil der Arbeit ist ja geblieben, die früher meine Kollegen leisteten - Kollegen, die wir in den Vorruhestand versetzt oder entlassen haben. (Arbeit, die man in der Öffentlichkeit nicht wahrnahm, war an jenem historischen Tag erlaubt.)

Dann werde ich nur noch vom Festakt im Rathaus erzählen, von dem Quartett, das zu Ehren eines österreichischen Kaisers komponiert und uns zum Tag der deutschen Einheit vorgespielt wurde, von der zwiespältigen Rede des Präsidenten der Stadtverordnetenversammlung und der nüchtern-ökonomischen Ansprache des Braunschweiger Oberbürgermeisters. Und von der Nationalhymne, die ich vor unendlich langer Zeit schon gesungen hatte, meistens in Kombination mit einem anderen Lied von einer Fahne und festgeschlossenen Reihen - als ich ein groß-deutsches Kind war, bis 1945. Nur gut, daß das Grundgesetz mir keine besondere Hymne vorschrieb, so daß ich hoffen durfte, der Verfassungsschutz werde es mir nicht ankreiden, dem Gesang nur stehend und schweigend meine Referenz erwiesen zu haben.

Ich werde erzählen können von den kürzeren oder längeren Gesprächen mit den GenossInnen meiner Fraktion und mit den Vertretern fast aller anderen Fraktionen und von meinem lauten Wunsch für alle, in dem neuen Land Glück und Erfolg zu haben, und von meinem Kompliment für die Damen der eigenen Fraktion, daß sie heute viel schöner, klüger, sympathischer seien als gestern - weil sie doch nun richtige Deutschinnen im richtigen Deutschland geworden waren.

Aber selbst wenn ich das alles vergessen haben sollte in der fernen Zukunft, wird doch in der Erinnerung ein kurzes Gespräch mit einer Pastorin bleiben, mit der mich die Ereignisse seit Herbst des vergangenen Jahres auf eigenartige Weise immer wieder zusammenführten.
Zum erstenmal habe ich ihre Stimme wohl gehört, als ich an einem Montagabend in einer großen Menschenmenge vor dem Dom stand; es regnete, ich war sehr allein und schämte mich entsetzlich. An einigen der darauffolgenden Montage erlebte ich sie dann im Dom. Einige Wochen später hatten wir beide unmittelbar miteinander zu tun, als sie - vor den Volkskammerwahlen - im Remter eine Diskussion von Vertretern der Parteien moderierte und ich jene Partei vertrat, die bereit war, die Verantwortung für vergangene Verbrechen und vergangenes Unrecht auf sich zu nehmen und durch ihre Arbeit etwas an Wiedergutmachung zu leisten. Das war damals die einzige Partei, deren Oppositionsrolle in einem künftigen Parlament außer Zweifel stand - alle anderen durften hoffen, als Regierende an der Gestaltung einer neuen Ordnung mitzuwirken. Aber von einer Beseitigung der DDR sprach damals in der Öffentlichkeit niemand.
In der Stadtverordnetenversammlung sind wir einander wieder begegnet, die Frau Pastorin in der Fraktion "Bündnis" und der PDS-Abgeordnete. Da gab es dann manchmal die eigenartige Situation - zumindest den Eindruck -, daß dem "Bündnis" die deutliche Abgrenzung von der PDS wichtiger zu sein schien als das gemeinsame Eintreten für gemeinsame Anliegen.
Als die Frau Pastorin und der PDS-Mann einander bei einer Veranstaltung in der Woche der ausländischen Bürger unter dem Dach der katholischen Kirche begegneten, war der PDS-Mann darüber nicht erstaunt, und da stand zum Glück auch nicht die Abgrenzung im Vordergrund.
Aber zurück in den Rathaussaal am Tag der deutschen Einheit: da setzte die Frau Pastorin mich in Erstaunen, als sie fragte, ob die PDS das Thema Kirchensteuern für die Entfachung von Leidenschaften gegen die Kirche nutzen wolle. Ähnliches habe es auf einer Wahlveranstaltung der Partei in Westerhüsen gegeben, mit falschen Informationen über die Höhe und die Erhebungsart der Kirchensteuern überdies, und dies habe unter den Pfarrern der Stadt zumindest Verwunderung erregt.
Ich weiß nicht, ob ein solches Gespräch vor einem Vierteljahr möglich gewesen wäre. Ein gewisses freundliches Erstaunen darüber ist sicherlich gestattet.

Ganz und gar nicht freundlich denke ich an den Genossen oder die Genossin, der/die auf eigene Faust im Namen der PDS "Kirchenkampf" betreibt. Das ist doch übelste SED-Tradition: sich unter tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern den zu wählen, der in der neuen parlamentarischen Ordnung zu den politisch Schwachen gehört (oder gibt es GenossInnen, die die Kirche mit der CDU gleichsetzen?) und den in der neuen marktwirtschaftlichen Ordnung die Sorge um das Schicksal der sozial Schwachen nicht weniger bewegen wird als unsere Partei.

In unserem persönlichen Verhältnis zu den Leuten von der Kirche müssen wir schon davon ausgehen, daß wir von der PDS in der Mehrheit Mitglieder der SED waren - jener Partei, die ihre Macht scham- und maßlos mißbrauchte, um jede Opposition zum Schweigen zu bringen und die Oppositionellen zu diffamieren, in Angst zu versetzen und sie sogar ihrer Existenzmöglichkeiten zu berauben. Welche Unterschiede zwischen offizieller Kirchenpolitik und dem Umgang mit Christen "an der Basis" bestanden, das müßte auch noch erinnerlich sein. Wer da auf wen zugehen, wer da bei wem Mißtrauen und Vorbehalte abbauen muß, das sollte wirklich für niemanden von uns eine offene Frage sein.

Wir tragen unsere Vergangenheit in uns und mit uns in das neue Deutschland. Dagegen hilft auch nicht, die Roten Socken wegzutun (wohin eigentlich?) oder umzufärben.

Wenn mich mein/e Urenkel/in nach dem ersten Tag der deutschen Einheit fragen wird, werden wir besser wissen, was aus dem großen historischen Experiment der Deutschen geworden ist - aber schon heute können wir wissen, daß wir unsere größten Probleme mit uns selbst und miteinander haben werden, die O-Deutschen untereinander. Das, was wir einander angetan haben und antun, können wir nur untereinander austragen - da ist es wenig hilfreich, aus alten Gegnerschaften neue Feindschaften zu entwickeln zwischen Leuten, die miteinander in dieser bedrohten Welt manches zum Besseren kehren könnten.


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Letzte Änderung 29.06.2008